Das Glück liegt auf dem Tennisplatz

Weniges ist so befriedigend, wie einem Ball hinterherzurennen. Besonders wenn es sich dabei um einen Tennisball handelt. Denn dieser ist schnell und seine Flugbahn so komplex, dass man sie durch bewusstes Denken nicht vorwegnehmen kann.
Aber genau das ist die Quelle des Glücks beim Tennis: Das Unbewusste antizipiert die Ballistik und dirigiert den eigenen Körper in die genau richtige Stellung, ohne dass der Verstand hinterherkäme. Wenn alles gut läuft, bewegt man sich über den Platz wie ferngesteuert. Das Wunder, den Ball in der richtigen Stellung angenommen zu haben, wird dann noch belohnt durch eine Akustik, die euphorisierender ist als
das Knallen von Champagnerkorken: das satte Aufprallgeräusch, mit dem der Schläger dem Ball einen Richtungs­wechsel aufzwingt.
Als ich das erste Mal auf einem Tennis­platz stand, war ich bereits 40 Jahre alt. Damals habe ich manches für möglich gehalten, zum Beispiel dass mein Leben noch weitere 40 Jahre dauern würde, aber dass es in diesem Alter möglich sein könnte, dem Leben noch einmal einen richtig neuen Reiz abzugewinnen, das hielt ich für unwahrscheinlich. Aber so ist es gekommen. Wenn ich auf dem Tennisplatz stehe, gibt es keine Sinnkrisen und keine Zweifel am eigenen Tun. Ich verspüre allenfalls einen leichten Stich im Herzen bei dem Gedanken, dass ich nie so gut sein werde wie meine Vereinsfreunde, die schon als Heranwachsende an diesen wunderbaren Sport herangeführt wurden. In solchen Momenten muss ich mir dann sagen, dass das Vergnügen, das Tennis bereitet, sich nicht proportional zum Können steigert. Die rauschhafte Ekstase, die Trance, über den Platz zu gleiten, den letzten Meter auf dem Sand zu rutschen und gegen alle Wahrschein­lichkeit den Ball doch noch mit einem Slice zu erwischen, war in meinem ersten Jahr auch nicht geringer als in meinem vierten. Wenn ich aber auf dem Nachbarplatz sehe, mit welch schlafwandlerischer Lässigkeit und Anmut zwei Zehnjährige sich die Bälle um die Köpfe schlagen, muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu ihnen zu gehen, ihnen auf die Schulter zu klopfen und ihnen mit schmierig-onkelhafter Senti­mentalität zu sagen: »Wisst ihr eigentlich, was für ein Glück ihr habt, dass ihr
von klein auf Tennis spielt?«
Zwei Abfahrten Richtung Tennis habe ich verpasst in meinem Leben: Die erste muss um die Zeit von Boris Beckers erstem Wimbledon-Sieg gewesen sein. Der ging an uns Heidelbergern naturgemäß noch weniger vorbei als am Rest von Deutschland. Ich weiß noch genau, wie die Mutter eines Schulfreundes zu meiner Mutter sagte, ihr Sohn sei jetzt in den Tennisverein eingetreten und das mache ihm großen Spaß, ob sie, meine Mutter, mich, ihren Sohn, da nicht auch anmelden wolle? Für eine Sekunde stand die Zeit in meinem Kopf still. In diesem Moment war ich von zwei gegensätzlichen Gefühlen ausgefüllt. Erstens: Das wäre ja das Größte! Zweitens: Tennisverein?
Das ist nichts für uns, das können wir uns nicht leisten. Und während ich wieder in die Normalzeit zurückkehrte, schüttelte ich den Kopf und sagte: »Tennis? Nee, interessiert mich nicht«.

Die zweite Tennisausfahrt bot sich wäh­rend meines Studiums an. Da gab es an der Münchner Universität den Hoch­schulsport. Ich hatte immer gerne Sport gemacht, vor allem Leichtathletik. Zehn Kilometer Joggen konnte ich sehr genießen. Aber ich wusste auch, dass mir beim Joggen etwas fehlt. Das Kompetitive. Die direkte Konfrontation mit einem Gegner. Der Jähzornanfall bei der Niederlage, das gerade noch unterdrückte Triumphgeheul beim Sieg. Ich zweifelte keine Sekunde, dass Tennis genau das Richtige für diese Bedürf­nisse ist. Beim Uni-Sport hieß es, man sei leider schon voll, ich könne mich fürs nächste Semester anmelden. Nun, ich war damals Anfang 20. Das nächste Semester lag in ähnlich ferner Zukunft
wie eine andere Galaxie. Woher sollte ich wissen, ob ich da noch Lust und Zeit hätte, Tennis zu lernen? Also verpasste ich diese zweite Ausfahrt, die auf immer noch bequeme Art dazu geführt hätte (ich könnte heulen, wenn ich nur daran denke!), dass ich heute auf 25 Jahre Tenniserfahrung zurückblicken würde.
Bei einem melancholischen Gespräch über verpasste Lebensträume erzählte ich vor fünf Jahren einer Kollegin, dass ich eigentlich immer Tennis spielen wollte, es aber leider nie auf die Reihe gekriegt hätte. Und nun sei es halt endgültig zu spät. »Was?«, entgegnete sie, während sie die Augen verdrehte über so viel Defätismus und Kleinmütigkeit. »So ein Quatsch!« Tennis könne man bis ins hohe Alter spielen und auch in fortgeschrittenem Alter noch problemlos erlernen. Und wenn ich wolle, würde sie mich ihrem Tennislehrer vorstellen.
So kam es, dass ich im Jahr 2011 mit dem Tennis anfing. Und weil ich spät dran war und einiges aufzuholen hatte, habe ich es mir auch was kosten lassen: In einer idealen Woche war ich gerne vier Mal auf dem Platz und hatte mindestens zwei Trainerstunden. Mein erster Tennislehrer, ein ehemaliger Investmentbanker, der seinen Job an den Nagel gehängt hatte und sein Leben nur noch auf dem Tennisplatz verbrachte, war über meine manische Besessenheit kein bisschen verwundert. Er fand das ganz normal. Die Fort­schritte im ersten Jahr waren eindrucksvoll und extrem motivierend. Seither fällt die Lernkurve. Ich fürchte, sie wird sich asymptotisch der Nullachse nähern. Nun, es ist, wie es ist, man soll nicht mit dem Leben hadern. Die Freude jedenfalls lässt nicht nach, überhaupt nicht. Ich muss nur den Geruch des Asche­sands einatmen, und schon weiß ich, dass die zweite Hälfte meines Lebens mich noch einmal mit einer richtig starken, elementaren Erfahrung überrascht hat.

Von Ijoma Mangold
(Leitung Literatur im Ressort Feuilleton DIE ZEIT)
Aus dem ZEIT Magazin
Ausgabe 9/2016